Annette Hess: Deutsches Haus. Berlin: Ullstein 2018

In ihrem ersten, 2018 erschienenen Roman hat die Drehbuchautorin Annette Hess ein deutsches Thema aufgegriffen, das nach dem Zweiten Weltkrieg verdrängt wurde und nun, fast 80 Jahre später, in Vergessenheit zu geraten droht. Doch sie führt uns in der Geschichte nicht nur zurück in die Zeit des Nazi-Regimes, sondern in die frühen 1960er Jahre, als man endlich damit begann, die ungeheuerlichen, im Dritten Reich begangenen Verbrechen strafrechtlich aufzuarbeiten. Wer das Buch liest, wird daher nicht nur an das Konzentrationslager in Ausschwitz erinnert, sondern an die frühen sechziger Jahre, als die 68er Generation noch in den Kinderschuhen steckte und das Wichtigste für eine Frau war, einen Ehemann aus gutem Hause und mit gutem Einkommen zu heiraten, um ganz Hausfrau und Mutter zu sein.

Doch die Hauptfigur des Romans, Eva Bruhns, eine junge Übersetzerin, deren Eltern in Frankfurt ein Gasthaus mit dem Namen „Deutsches Haus“ betreiben, kann sich mit diesem Rollenverständnis nicht abfinden. Das hat mit der Aufgabe zu tun, die sie im Winter 1963 übernimmt: Sie wird Dolmetscherin im ersten Ausschwitz-Prozess, der am 20. Dezember 1963 in Frankfurt begann. Die Autorin hat für ihren Roman auf das Archivmaterial des „Fritz Bauer Instituts“ zurückgegriffen, lässt fiktive Zeuginnen und Zeugen in diesem Prozess auftreten, für deren Aussagen sie wortwörtliche Zitate von Prozessteilnehmerinnen und- teilnehmern verwendet.

Den Auftrag, diese Aussagen zu übersetzen, soweit sie von Zeugen aus Polen gemacht werden, übernimmt Evan Bruhns gegen den Willen ihres gut betuchten Ehemanns in spe, des Unternehmersohns Jürgen Schormann. Der hält bei ihren Eltern um ihre Hand an, wie sich damals gehörte, kann aber nicht verhindern, dass seine Verlobte sich im Rahmen ihrer Dolmetschertätigkeit mit etwas auseinandersetzen muss, das von der älteren Generation verdrängt und verschwiegen wird. Verdrängt auch von ihren Eltern, die ein Restaurant mit gut bürgerlicher Küche betreiben, das “Deutsche Haus“, und, als der Prozess in Frankfurt beginnt, alle Hände voll zu tun haben. Der Vater Ludwig kocht trotz seiner Rückenschmerzen mit Hingabe, was deutschen Gaumen schmeckt, vor allem in der Vorweihnachtszeit: Gans mit Rotkohl und Klößen. Im Wohnzimmer der Familie hängt ein wuchtiges Ölgemälde, auf dem Schrank dreht sich im Kerzenschein eine Weihnachtspyramide. Die Mutter Edith backt neben ihrer Tätigkeit für das Restaurant Frankfurter Kranz und mahlt die Kaffeebohnen in einer kleinen elektrischen Mühle. Ihr Mann wird ihr zu Weihnachten eine Waschmaschine schenken. Eine gute deutsche Familie, zu der neben Eva noch ihre Schwester Annegret gehört, die nicht ganz so gut geraten ist wie Eva, sowie der kleine Bruder Stefan und Purzel der Hund. Die Autorin versteht es, das „Deutsche Haus“ zu füllen – mit Menschen, Möbeln, Bildern, Spielzeug, Gerüchen. Wer damals jung war, der liest fast wie in einem Bilderbuch. Denn es sind Bilder, mit denen die Autorin arbeitet, die in der Erinnerung wach werden.

Zu Deutschland im Dezember 1963 gehört aber nicht nur der Schnee, der Weihnachtsmarkt mit Glühwein und das Lied „Es ist für uns eine Zeit angekommen“, sondern auch der Prozess gegen die Täter von Auschwitz, die auf der Anklagebank sitzen, sich ansonsten aber noch frei bewegen können und alle Verantwortung von sich weisen. Doch ihre Behauptung, mit den Gräueltaten von Ausschwitz nichts zu tun zu haben, wird im Laufe des Prozesses durch Zeugenaussagen entkräftet, auch von Zeugen, deren Aussage Eva Bruhn übersetzen wird. Das ist nicht einfach, weder für die Zeugen, noch für die Übersetzerin Evan Bruhns, die im Laufe des Prozesses immer stärker in das Geschehen hineingezogen wird. Auch dann, wenn sie nicht gebraucht wird, verfolgt sie den Prozess; das unfassbar Geschehene lässt sie nicht los. Aus ihrer beruflichen Tätigkeit wird Engagement für die Menschen, die als Opfer und Zeugen nach Deutschland gekommen sind, um Rechenschaft über die in Ausschwitz begangenen Verbrechen abzulegen.

Für Eva Bruhns ist der Prozess aber noch mehr: eine Reise in ihre Kindheit. Denn der Ort, um den es geht, kommt ihr seltsam bekannt vor. Sie beginnt nachzuforschen und findet schließlich heraus, dass sie in dem Lager, um das es geht, schon einmal gewesen ist – als Kind mit ihren Eltern. Denn der Vater war Koch für das Personal im Lager Auschwitz. Was er heute seinen Gästen an guter Küche serviert, hat er während des Kriegs für die Täter von Ausschwitz gekocht. Das war halt eine anständig bezahlte Tätigkeit, wie er seiner Tochter später erklärt, bei der es sich jedoch nicht vermeiden ließ, dass durch die Fenster des großzügigen Hauses, das die Familie bewohnte, üble Gerüche von außen hereindrangen, von Leichen, die unweit des Hauses verbrannt wurden. Aber richtig gewusst, was dort passierte, habe man erst nach dem Krieg. So nah am Geschehen, aber so unwissend.

Als man im Prozess beschließt, den Tatort zu besuchen, und dafür auch die Erlaubnis der polnischen Regierung bekommt, darf Eva mitreisen, um zu dolmetschen. Vor Ort findet sie dann den letzten Beweis für die Anwesenheit ihrer Familie in Ausschwitz. Auch ihre Eltern müssen sich schließlich der Vergangenheit stellen, als ihre Mutter als Entlastungszeugin für den Hauptangeklagten vorgeladen wird. Da hält es Eva zu Hause nicht mehr aus. „Ihr habt nicht gemordet“, sagt sie ihren Eltern ins Gesicht, „aber ihr habt es zugelassen. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Sagt mir, was schlimmer ist.“

Eva verlässt das Elternhaus.  Sie reist noch einmal auf eigene Faust nach Polen, begibt sich auf Spurensuche. Sie will selbst um Verzeihung bitten, nachempfinden, wie es war, im Lager auf der anderen Seite des Zauns zu sein. Das will nicht gelingen. Doch dann trifft sie in Warschau ihren Ex-verlobten Jürgen wieder. Beide sind ein gutes Stück erwachsener geworden, reifer. Und sie empfinden noch Liebe füreinander.

Das Buch ist ein Porträt einer jungen Frau Anfang der 1960er Jahre. Sie ist umgeben von Menschen, nicht nur aus ihrer Familie, über die wir viel erfahren und deren Geschichten miteinander verwoben sind. So gesehen ist es auch ein Porträt dieser Zeit und ihres Umgangs mit der Vergangenheit.

Wolfgang Tönnesmann

Webopac in der Stadtbücherei